Nicht Ihr Vater

Ihre Clans waren seit Generationen verfeindet. Doch Thorwens Leben nimmt eine unerwartete Wendung, als ein junges Mädchen aus dem feindlichen Uluwayt Stamm ihm unerwartet zu Hilfe eilt.

Status: Abgeschlossen
Serie: Ilwana

Das Erste, was Thorwen erblickte, war rauer Stein. Seine Verwirrung währte jedoch nur kurz, dann fiel ihm wieder ein, dass er sich noch immer in der Höhle befand, in der er Schutz gesucht hatte.

Sein Spähtrupp war in einen Hinterhalt geraten, und einer seiner Männer war etwas zu voreilig gewesen. Thorwen hatte einen schweren Schlag einstecken müssen, als er versucht hatte, die Situation zu retten.

Das Messer, das ihn verletzt hatte, war mit einem Betäubungsmittel getränkt gewesen, das die Reflexe verlangsamte, und in dem Wirrwarr des Kampfes war er von seinen Sippenmitgliedern getrennt worden.

Thorwen erinnerte sich vage daran, in eine Höhle gestolpert zu sein, bevor er das Bewusstsein verloren hatte.

Er blinzelte leicht in das Dämmerlicht der Höhle.

Zu seiner Linken bewegte sich etwas. Er wandte den Kopf und blinzelte überrascht, als er die kleine Gestalt sah, die zusammengerollt neben ihm lag.

Ein Kind?!

Er verengte die Augen, und griff nach seinem Schwert.

Das war der Moment, indem er bemerkte, dass der provisorische Verband an seinem Arm fehlte und seine Wunde auf mysteriöse Weise verheilt war.

Er hielt inne und blickte von der makellosen Haut zu dem Kind und wieder zurück.

Hatte sie ihn geheilt?

Er neigte sich zur Seite, um seine junge Begleiterin eingehender zu betrachten.

Seine Miene wurde hart, als er die für den Uluwayt-Clan typischen Gesichtszüge erkannte.

Thorwens Hand umschloss den Griff seines Schwertes. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie zu töten, wehrlos und schlafend, wie sie neben ihm lag. Aber seltsamerweise war es genau das, was ihn davon abhielt.

Als hätte sie seine mörderischen Absichten gespürt, öffnete das Kind die Augen und schenkte ihm ein zaghaftes, aber ehrliches Lächeln. „Sie sind wach. Ich bin froh.“

Sie klang aufrichtig erleichtert. Thorwen wusste nicht, was er von dieser Ehrlichkeit halten sollte.

„Ich habe mir Sorgen gemacht“, fuhr sie fort, „da draußen sind böse Männer, die nach Ihnen suchen, und ich glaube nicht, dass ich sie davon abhalten kann, Sie zu töten.“

Böse Männer? Sie daran hindern, ihn zu töten? Wovon sprach sie?

Das Kind versuchte aufzustehen, aber Thorwen würde auf keinen Fall zulassen, dass ein Uluwayt sich in seiner Gegenwart frei bewegen konnte.

Sein Schwert glitt aus seiner Scheide und kaltes Metall presste gegen die schmale Kehle.

Das Kind erstarrte unter seinem eisigen, distanzierten Blick. „Wer bist du?“, fragte er scharf.

„Rhea“, antwortete sie leise.  „Mein Name ist Rhea.“

„Nun gut, Rhea von den Uluwayt“, er betonte ihren vollen Namen. „Erkläre dich oder stirb.“

Das junge Mädchen schluckte und warf einen nervösen Blick auf den Stahl, der ihr Leben bedrohte. „Ich habe Sie in dieser Höhle gefunden. Sie waren bewusstlos … Ich wollte gehen, aber dann sah ich, dass Sie verletzt waren …“

„Du hast mich geheilt“, stellte Thorwen mit ausdrucksloser Miene fest und verengte seine Augen. „Warum?“ Er drückte die Klinge fester gegen ihre Kehle. Eine falsche Bewegung und die Schneide würde Haut durchstoßen.

Das Mädchen senkte den Blick und der kleine Körper zitterte. Er passte den Druck seines Schwertes gerade so weit an, dass sie sich nicht versehentlich selbst aufspießte.  „Ich … ich wollte nicht noch mehr sterben sehen.“

Sie sah völlig wehrlos aus; zitternd auf dem Boden liegend, ein Schwert fast so groß wie ihr eigener Körper an der Kehle und Thorwen wurde plötzlich bewusst, wie jung sie eigentlich war. Er unterdrückte ein Seufzen und bezwang seine instinktive Feindseligkeit, indem er sich daran erinnerte, dass sie ihm völlig ausgeliefert war und keine Bedrohung darstellte. „Erzähle mir von den Männern, die du erwähnt hast.“

„Es sind drei“, antwortete das Kind schnell und wich seinem Blick aus. „Einer von ihnen trug eine schwarze Kapuze und hinkte, ein anderer hatte eine sehr kratzige Stimme und der Dritte roch nach Moschus, Tabak und Rauch.“

Thorwens zweite Augenbraue gesellte sich zur ersten. Die Beschreibungen waren zwar nicht sehr detailliert, aber für jemanden ihres Alters doch recht beeindruckend, zumal sie nicht nur ihre Augen, sondern auch ihre anderen Sinne eingesetzt hatte, um die Personen zu unterscheiden.

Wenn sie ihre Fähigkeiten verbesserte, würde sie eines Tages eine ausgezeichnete Wächterin abgeben – und eine weitere Bedrohung für seinen Clan werden.

Thorwen schob diesen Gedanken beiseite und legte seine freie Hand auf den Boden, um sich mit der Erde zu verbinden. „Ich kann keine Präsenzen spüren. Sie sind entweder nicht mehr in der Nähe, oder sie haben durch die Hände meiner oder deiner Sippe ihr Leben gelassen.“

Das Gesicht des Kindes trübte sich leicht, und es sah beinahe traurig aus. „Oh.“

Thorwen betrachtete sie mit scharfem Blick. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte ihn vage an seinen Bruder Helion. Er sah jedes Mal genauso aus, wenn Kayron mal wieder eines seiner Friedensangebote ausschlug.  „Du würdest den Tod eines Feindes betrauern?“

Die Tatsache, dass sie seinem Blick auswich, war Antwort genug.

Es war ein gefährliches Bekenntnis. Hätte sie es vor ihrem Clan gemacht, wäre sie zweifelsohne schwer bestraft worden. Der Feind war genau das. Ein Feind. Ein inhumanes Wesen. Etwas, das ohne Gnade vernichtet werden musste, ganz gleich, welche Form es annahm.

Sie hatte diese eiserne Regel gebrochen, als sie ihn gerettet hatte.

Er fragte sich, ob sie sich seiner Identität überhaupt bewusst war. „Kind, weißt du, wer ich bin?“

„Sie gehören zum Myrat-Clan?“, fragte sie zögernd.

Thorwen lächelte ironisch. „So könnte man es auch nennen. Ich bin Thorwen Myrat.“

Thorwen spürte, wie ihre Aura vor Angst in die Höhe schnellte, bevor sie sich wieder beruhigte. „Bereust du jetzt, dass du mich gerettet hast?“, fragte er ungerührt.

„Nein, das tue ich nicht.“

Wieder einmal wurde Thorwen aus dem Konzept geworfen. Er hatte Furcht, Abscheu oder sogar Hass erwartet. Aber ihr Gesichtsausdruck war genauso aufrichtig wie zuvor, auch wenn er einen leichten Schimmer von Angst in den dunklen Augen sehen konnte.

Einen Moment lang herrschte unangenehmes Schweigen, bevor seine kleine Gefangene eine zaghafte Frage stellte. „Werdet Ihr mich jetzt … töten?“

Die Antwort hätte ja lauten müssen, und zu jedem anderen Zeitpunkt wäre sie es wahrscheinlich auch gewesen. Aber Thorwen war diesem kleinen Kind in seinen Händen etwas schuldig. Es fühlte sich nicht richtig an, sie zu töten, nachdem sie ihm geholfen hatte. Er hasste es, Kinder zu töten. Besonders, wenn sie so hilflos und jung waren wie das, das gerade unter seinem Schwert zitterte.

Er fasste einen Entschluss. „Meine Klinge wird dich heute nicht treffen. Im Gegenzug für deine Hilfe wirst du dein Leben und deine Freiheit behalten. Ich werde dafür sorgen, dass du sicher zu deinem Clan gelangst.“ Er ließ das Schwert sinken.

Thorwen konnte deutlich die Erleichterung und Dankbarkeit in ihren Augen sehen, auch wenn sie von Sorge überschattet wurden. Sorge um ihn, stellte er fest, als sie wieder das Wort ergriff. „Ihr seid gerade erst aufgewacht, Khán Myrat. Ihr solltet Euch noch ein wenig ausruhen.“

Es war erstaunlich. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er ihr Leben bedroht, und dennoch sorgte sie sich um sein Wohlergehen.

„Ich habe keine Zeit, mich auszuruhen“, erwiderte er knapp, „nicht wenn die Feinde so nah sind.“ Er warf ihr einen tadelnden Blick zu. „Es war töricht von dir, so unmittelbar in meiner Nähe einzuschlafen. Ich hätte dich im Schlaf niederstrecken können.“

Thorwen wusste nicht, warum er sie für ihre Nachlässigkeit tadelte. Schließlich war es nicht so, als wäre er für sie verantwortlich. Ganz im Gegenteil. Sie war das Kind seiner Feinde. Von einem logischen Standpunkt aus gesehen, war es eine schlechte Idee, sie zu belehren. Aber dennoch verspürte er den Drang, sie für ihren Mangel an gesundem Menschenverstand zurechtzuweisen.

„Ich war müde“, murmelte sie und fummelte am Saum ihres Hemdes herum, „und ich fürchtete, Ihr würdet angegriffen werden.“

Thorwen stöhnte beinahe laut auf. Hatte dieses Kind keinen Selbsterhaltungstrieb? So etwas erzählte man doch nicht seinem Feind.

Er fragte sich wirklich, was sie überhaupt außerhalb ihres Clangeländes zu suchen hatte. Niemals hätte er ein so wehrloses Kind wie sie auch nur in die Nähe der Tore gelassen – und wenn er Kayron Uluwayt nicht vollkommen falsch einschätzte, dann würde er es auch nicht gestatten.

Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu. „Du hast das Territorium deines Clans ohne Erlaubnis verlassen. Aus welchem Grund?“

Sie sah zu Boden. „Mein Vater“, murmelte sie leise. „Er ist vor einem Jahr nicht unweit von hier gefallen. Sie haben seine Leiche nicht gefunden. Ich wollte nur …“, ihre Stimme brach, und sie sah weg.

„Ich verstehe.“ Thorwens Gesicht war ausdruckslos, doch er fühlte sich seltsam unbehaglich. Er hatte angenommen, ihr Grund sei ein typisch Kindlicher gewesen und er hatte eine Antwort wie Neugierde oder Langeweile erwartet. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass sie das Risiko auf sich genommen hatte, um die Toten zu ehren.

„Vielleicht solltest du diese nicht genehmigten Ausflüge in Zukunft noch einmal überdenken. Ich glaube nicht, dass es im Interesse deines verstorbenen Vaters wäre, wenn ihr am selben Tag sterben würdet.“

Das Kind zuckte zurück.

Gut so. Vielleicht würde sie in Zukunft nicht mehr so unvorsichtig sein.

Thorwen versuchte sich aufzurichten, schwankte aber leicht und ließ sich wieder nieder. Eine winzige Hand schloss sich um seine und versuchte, ihn zu stützen. Es half wenig, aber er wusste die Geste dennoch zu schätzen.

„Ihr habt viel Blut verloren, Khán Myrat“, bemerkte das Mädchen leise, „bitte überanstrengt Euch nicht.“

Er drehte seinen Kopf, um sie anzusehen, und bemerkte beiläufig, dass sie nun neben ihm kniete.

„Khán Myrat?“

„Ja, Kind?“

Sie rutschte unruhig hin und her. Es war offensichtlich, dass sie ihn etwas fragen wollte, sich aber nicht traute, es auszusprechen, wahrscheinlich aus Angst, sich damit seinen Zorn zuzuziehen.

Thorwen studierte ihr ausdrucksstarkes Gesicht und konnte förmlich sehen, wie sie ihren restlichen Mut zusammenkratzte.

Er war leicht beeindruckt, als es ihr tatsächlich gelang.

„Darf … darf ich aufstehen? In meiner Tasche ist ein Laib Brot, und ich würde ihn gerne holen – wenn Ihr es erlaubt, natürlich“, fügte sie schnell hinzu und senkte den Kopf.

Sie sah so zaghaft aus, als sie ihn um Erlaubnis bat, dass Thorwen den Drang unterdrücken musste, beruhigend eine Hand auf ihren Kopf zu legen, wie er es bei den Kindern seiner Sippe getan hätte.

Stattdessen neigte er lediglich den Kopf. „Nur zu.“

Zu seiner Überraschung lächelte sie ihn strahlend an und lief los, um ein paar Schritte von ihm entfernt in einem kleinen Lederbeutel zu kramen, und kam dann mit einem fest verschnürten Tuch zurück.

Sie löste den Knoten und breitete das Tuch zwischen ihnen aus. „Vielleicht erholt Ihr Euch schneller, wenn Ihr etwas esst.“ Sie brach den Laib in zwei Hälften und biss in das kleinere Stück, während sie ihm das andere anbot.

Einen Augenblick lang starrte er sie einfach nur an und versuchte, die Tatsache zu begreifen, dass das Kind seinen Zorn riskiert hatte, um ihm zu helfen, dann nahm er das Angebot an. Für eine Weile war es still in der Höhle, als sie gemeinsam das Brot brachen.

Es war eine surreale Erfahrung, sich mit einem Mitglied des Uluwayt-Clans eine Mahlzeit zu teilen, so mager sie auch sein mochte.

Doch das Kind hatte recht gehabt. Das Essen half. Seine Kräfte kehrten tatsächlich zurück.

Das Mädchen hingegen sah ziemlich müde aus. Thorwen vermutete, dass die psychische Belastung sie nun endgültig einholte.

Er war nicht überrascht, als er sie gähnen sah. „Ruh dich aus“, befahl er ihr knapp, „für heute bist du bei mir sicher.“

Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu, gähnte erneut und rollte sich auf dem Boden zusammen. „Danke, Khán Myrat. Ihr seid wirklich … gütig …“

Thorwen erstarrte und verengte seine Augen in ihre Richtung, aber das Kind schlief bereits tief und fest, die schwarzen Haare wie ein Heiligenschein um ihren Kopf gelegt.

Ihr Gesichtsausdruck war entspannt, und sie sah im Schlaf sogar noch jünger aus. Thorwen ertappte sich dabei, wie er ihr einen schönen Traum wünschte, denn die Realität würde gnadenlos sein.

Sie musste mit einer harten Strafe rechnen, weil sie ohne Erlaubnis das Uluwayt Territorium verlassen hatte, und mit einer noch schlimmeren, da sie ihm geholfen hatte.

Möglicherweise würde man sogar ihren Tod fordern.

Der kleine Körper zitterte. Kein Wunder. Der Boden war zum Schlafen einfach zu kalt.

Thorwen zögerte nur eine Sekunde, bevor er seinen Mantel abstreifte und ihn über das fröstelnde Kind legte.

Das Mädchen bewegte sich unter dem unerwarteten Gewicht und vergrub ihr Gesicht tiefer in das flauschige Pelzfutter.

~*~

Thorwen wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber er spürte plötzlich die charakteristische und sehr vertraute Präsenz seines Bruders.

Thorwen lächelte und versuchte erneut aufzustehen. Dieses Mal schwankte er nicht mehr. Die letzten Nachwirkungen des Beruhigungsmittels waren endlich verklungen.

Er warf einen nachdenklichen Blick auf das schlummernde Kind. Sein erster Instinkt war, sie zu wecken, aber die weichere und weniger pragmatische Seite in ihm entschied, dass es gnädiger wäre, sie noch ein wenig länger ruhen zu lassen.

Thorwen bückte sich und hob sie behutsam in seine Arme. Er wickelte seinen Mantel um sie, bis nur noch der Scheitel zu sehen war, und machte sich dann auf den Weg zum Ausgang.

Vor der Höhle wimmelte es nur so von seinen Clanmitgliedern.

Ein Dutzend Fackeln erhellte die dunkle Nacht.

Thorwen ließ seine Aura aufflackern und spürte, wie die seines Bruders begeistert antwortete.

Aus den Bäumen trat eine Gestalt hervor und stürmte auf ihn zu. Das Gesicht seines Bruders war von tiefer Sorge gezeichnet, und Helion Myrat näherte sich ihm mit schnellen, eiligen Schritten. „Bruder! Gott sei Dank, dass wir dich gefunden haben. Ich war sehr besorgt, als deine Einheit ohne dich zurückkehrte. Für einen Augenblick befürchtete ich, ich hätte dich verloren.“

„Ich sterbe nicht so leicht, Bruder“, antwortete Thorwen und schenkte seinem älteren Bruder ein warmes Lächeln. Er war wirklich glücklich, ihn zu sehen. „Ich würde dich umarmen, aber im Moment habe ich die Hände voll.“

„Das sehe ich.“ Helion blickte neugierig auf seine Fracht und seine Augen weiteten sich, als er den Kopf sah, der aus dem Mantel ragte. „Ist das ein Kind?!“

„Nicht hier“, erwiderte Thorwen schnell, „ich werde dir alles berichten, sobald wir zurückgekehrt sind. Habt ihr die übrigen Angreifer gefunden?“

„Wir haben einen gefangen genommen und zwei getötet. Wir werden ihn später verhören“, antwortete Helion und klopfte ihm auf die Schulter. „Es ist eine große Erleichterung, dich heil zurückzuhaben, kleiner Bruder.“

Er drehte sich zu seinen Clanmitgliedern um. „Wir gehen zurück!“

~*~

Thorwen wusste, dass Helion vor Neugierde fast starb, und so war er nicht überrascht, als sein Bruder ihm in das Studierzimemer folgte.

„Also gut“, begann Helion, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, „ich war jetzt lange genug geduldig. Wer ist das Kind? Und benötigst du medizinische Versorgung? Ach, warum frage ich überhaupt. Du wirst es ohnehin leugnen. Ich werde dich einfach untersuchen, während du mir berichtest.“

Thorwens Lippen zuckten und er legte das Mädchen auf dem Divan ab. Es grenzte an ein Wunder, dass das Kind die ganze Zeit über geschlafen hatte. Sie musste wirklich erschöpft gewesen sein.

Helion trat neben ihn und Thorwen schlug den Mantel leicht zurück, damit sein Bruder das Gesicht sehen konnte.

Helion atmete scharf ein, als er die Gesichtszüge erkannte, und seine Miene wurde schlagartig ernst. „Thorwen, ich brauche diese Erklärung dringend. Also, setz dich, lass mich dich ansehen und fang an zu reden.“

Thorwen seufzte und fügte sich.

~*~

Helion hörte schweigend zu, während er sich vom Wohlergehen seines Bruders überzeugte.

Sein nachdenklicher Gesichtsausdruck verwandelte sich langsam in ein überraschtes, aber erfreutes Lächeln, je weiter Thorwen mit seiner Erklärung kam.

Er beendete seine Untersuchung, um seinen Bruder in die Arme zu schließen und ihn fest zu umarmen. „Ich bin stolz auf dich, kleiner Bruder. Es war die richtige Entscheidung, das Kind zu verschonen.“

Helion grinste breit, als Thorwen ihn zurück umarmte.

Sie teilten einen langen Moment, ehe Helion die Umarmung löste und sein Gesicht wieder ernst wurde. „Ich befürchte, wir befinden uns jetzt in einem ziemlichen Dilemma. Wir müssen sie dem Uluwayt Clan zurückgeben. Aber das können wir später besprechen. Es ist bereits spät und wir sollten uns ausruhen. Ich werde heute Nacht hierbleiben, um ein Auge auf sie zu werfen.“

Thorwen seufzte erleichtert. „Danke, Bruder. Falls sie aufwacht, bevor ich zurück bin …“

„Dann werde ich mein Bestes tun, sie nicht zu verängstigen“, antwortete Helion. Seine Augen funkelten amüsiert.

„Genau das ist es, was mir Sorgen bereitet“, murmelte Thorwen und schloss die Tür hinter sich.

Helion sah ihm hinterher und schüttelte belustigt den Kopf. Er hätte nie gedacht, dass sich sein Bruder einmal Sorgen um ein Kind machen würde.

Er wandte sich um und musterte das besagte Kind. Im Laufe ihres Gesprächs hatte sie sich tiefer in den Pelzmantel verkrochen und war nun nahezu unter dem schweren Stoff verschwunden.

Helion lächelte, aber seine gute Laune verflog augenblicklich, als ihm wieder einfiel, wie es um die Beziehungen zwischen ihren Clans stand.

~*~

Helion nippte gerade gemütlich an seinem Tee, als ein schwaches Auraflackern ihm signalisierte, dass das Kind langsam erwachte.

Helion stellte die Tasse ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Mädchen.

Er beobachtete stumm, wie ihr verwirrter Blick durch die Kammer wanderte und schließlich auf ihn fiel.

Ein Anflug von Angst huschte über ihr Gesicht, doch Helion begegnete ihrem erschrockenen Blick mit der ihm eigenen Ruhe.

Einen Moment lang betrachtete er einfach nur das junge, verängstigte Gesicht und die Art und Weise, wie sich ihre schwarzen Augen auf ihn konzentrierten und ihn mit der erschrockenen Aufmerksamkeit ansahen, die eine Beute einem Raubtier widmete.

Dann erhob er sich und näherte sich ihr mit langsamen, stetigen Schritten. Das Kind bewegte sich nicht, doch ihre Haltung wurde zunehmend angespannter. Helion fühlte sich vage an ein verängstigtes Tier erinnert, und er bemühte sich, seinen Tonfall völlig neutral zu halten, als er sie begrüßte. „Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“

Seine Worte schienen sie zu beunruhigen, denn sie senkte plötzlich den Kopf, starrte auf den Mantel und beantwortete seine Frage nur mit einem kaum sichtbaren Nicken.

„Gut.“

Einen Moment lang herrschte eine angespannte Stille, als er über seine nächsten Worte nachdachte. „Mein Bruder ruht sich noch aus. Ich habe angeboten, an seiner statt auf dich achtzugeben.“

Sie erstarrte und ihre kleinen Hände verkrampften sich in dem Mantel. „Geht … geht es ihm gut?“

Die zaghafte Frage ließ Helion beinahe lächeln. Scheinbar war es nicht nur sein Bruder, der eine fragile Zuneigung entwickelt hatte.

„Er wird sich erholen“, antwortete er schlicht.

Ihre Schultern entspannten sich leicht. Helion stellte erfreut fest, dass sie aufrichtig erleichtert zu sein schien.

„Es scheint, ich muss mich bei dir für seine rasche Genesung bedanken“, fuhr er fort, „ich habe bereits den Bericht meines Bruders erhalten, aber nun möchte ich gerne hören, was sich aus deiner Sicht zugetragen hat. Würdest du mir ein paar Fragen beantworten?“

Das Mädchen schluckte und nickte stumm mit dem Kopf. Ihr kleiner Körper zuckte auf eine Weise, die vermuten ließ, dass sie mit dem Drang kämpfte, zurückzuweichen.

Es war bestürzend, dass ein Kind so viel Angst vor ihm hatte, dass es sich zwang, stillzuhalten, wenn es so offensichtlich war, dass es am liebsten fliehen würde.

Helion seufzte unmerklich und trat ein paar Schritte zurück. Vielleicht wäre es für das Kind einfacher, wenn er es zuerst sprechen ließe und später Klarstellungen verlangte. „Dann erzähle mir erst einmal, wie du meinen Bruder kennengelernt hast.“

~*~

Thorwen fühlte sich wie neugeboren. Er hatte sich gut erholt, und das Bad, das er soeben genommen hatte, hatte hervorragend dazu beigetragen, seine restlichen Kräfte wiederherzustellen. Es tat gut, den Staub, das Blut und den Dreck loszuwerden.

Er kehrte in das Studierzimmer zurück und fand seinen Bruder gegen die Wand gelehnt vor. Helion musterte das verängstigte Mädchen mit nachdenklicher Miene. „Dein Bericht deckt sich mit dem meines Bruders.“

Es schien, als hätte er Helions Befragung verpasst.

Er sah das Kind an. Ihre offensichtliche Erleichterung war fast greifbar. Sie wirkte wie jemand, der soeben knapp einem Todesurteil entgangen war.

Thorwen verspürte eine entfernte Art von Mitleid. Es musste beängstigend sein, der Gnade zweier erwachsener und feindlich gesinnter Männer ausgeliefert zu sein, die einen mit Leichtigkeit überwältigen konnten.

In diesem Moment klopfte es dreimal kräftig gegen die Tür. „Khán Helion? Wir haben Neuigkeiten bezüglich des Gefangenen. Dürfen wir eintreten?“

Thorwen wechselte einen kurzen Blick mit seinem Bruder, doch dieser schüttelte den Kopf. „Warte hier. Ich werde nachsehen, was geschehen ist.“

Helion öffnete die Tür und Thorwen erblickte hinter der Gestalt seines Bruders fünf Clanmitglieder, die einen gefesselten Mann umringten. Thorwen identifizierte ihn als einen der Angreifer.

Er spürte, wie das Kind sich neben ihm verkrampfte, und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Eine der Wachen versetzte dem Gefangenen einen harten Stoß, der den Mann in die Knie zwang. „Berichte unserem Khán-an, was du uns soeben erzählt hast.“

Der Gefangene grinste. „Es war der Uluwayt-Clan, der uns angeheuert hat!“, erklärte er mit kratziger Stimme, „Sie wollten, dass wir den Bruder des Khán-ans aus dem Weg räumen!“

„Khán-an! Das ist ein Attentat! Wir können nicht zulassen, dass so etwas unbeantwortet bleibt!“

„Wir müssen Rache üben!“

„Wir müssen zurückschlagen!“

~*~

Rhea beobachtete mit wachsendem Entsetzen, wie Rufe nach Vergeltung durch den Raum schallten.

Das war furchtbar!

Wenn das so weiterging, würden sie wieder kämpfen!

Sie warf einen Blick auf den gefangenen Mann, der zu Khán-an Helions Füßen kniete. Sie hatte seine Stimme erkannt. Er war einer der Männer, die Khán Thorwen gesucht hatten.

Aber warum hatte er das gesagt?!

So etwas würde Khán-an Kayron auf keinen Fall tun!

Der Gefangene drehte leicht den Kopf und Rhea sah etwas Schwarzes an seinem Hals aufblitzen, ehe es wieder von dem schmutzigen und zerrissenen Halstuch verdeckt wurde.

Ein Brandmal?

Sie kniff die Augen zusammen und überlegte, woher sie das Zeichen kannte.

Mit einem Schlag wurde es ihr klar, und sie zupfte energisch an Khán Thorwens Ärmel.

„Khán Myrat! Er lügt!“

Khán Thorwen durchbohrte sie mit einem stechenden Blick. Er hatte sie nicht mehr so kalt angesehen, seit er ihr die Klinge an die Kehle gesetzt hatte, und sie erkannte mit Schrecken, dass er den Worten des Mannes Glauben schenkte.

Das konnte sie nicht zulassen.

Sie musste ihn dazu bringen, ihr zu glauben.

Sie versuchte es erneut.

„Das war nicht mein Clan. Bitte, Khán Myrat.“

Einen Moment lang herrschte Schweigen, während der Mann sie musterte. Rhea war sich sicher, dass sie verzweifelt aussah, aber das hier war wichtig.  „Bitte! Ich kann es beweisen!“

Er wandte sich ab und Rheas Herz sank.

Er würde nicht zuhören.

Natürlich würde er das nicht.

Wer würde ihr schon glauben?

Sie war eine Uluwayt.

Ein Feind.

Und Feinden hörte man nicht zu.

Die Flammen des Krieges würden wieder lodern – und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.

„Ruhe.“ Khán Thorwens Befehl übertönte die wütenden Schreie mit Leichtigkeit. Es war nur ein einziges Wort, doch es war wirkungsvoll genug, um die Menge zum Schweigen zu bringen.

Eine angespannte Stille legte sich über den Raum, während Khán Thorwen sich an seinen Bruder wandte. „Bruder, das Kind hat etwas zu sagen.“

Rheas Herz machte einen Sprung und zitterte gleichzeitig.

Khán Thorwen hatte ihr Flehen nicht ignoriert.

Er hatte ihr tatsächlich zugehört.

Doch jetzt wollte er, dass sie sich erklärte. Vor einer Gruppe feindseliger Myrat.

Sie schluckte.

„Eine Uluwayt?!“

„Was macht sie hier?!“

„Spielt das eine Rolle? Tötet sie einfach!“

Rhea zuckte zusammen, und Khán Thorwen fasste sie fester bei der Schulter. Er stand jetzt so dicht bei ihr, dass sie die Wärme spüren konnte, die von seinem Körper ausging. Es war beruhigend und furchterregend zugleich.

Mit einem Mal spürte Rhea, wie eine gewaltige Energiewoge über sie hinwegfegte. Sie war stark, dominant und erdrückend.

Sie fröstelte und war nun sehr froh über Khán Thorwens ruhige Präsenz. Der Mann war so unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung. Stark und unverwüstlich im Angesicht der ungeheuren Kraft seines Bruders, die Rhea schier den Atem nahm.

Helion Myrat hob die Hand und fixierte seine scharfzüngigen Clanmitglieder mit zusammengekniffenen Augen. „Dieses Kind rettete meinen Bruder.  Sie verdient das Recht, gehört zu werden.“

Seine Stimme war hart und trug einen Ausdruck von kompromissloser, unerbittlicher Stärke in sich.

Keiner wagte es, ihm zu widersprechen.

Der energetische Druck verringerte sich, schwand aber nicht völlig, vielmehr umgab er ihn wie ein schlummernder Drache, der bereit war, jeden Moment zu erwachen.

Rhea wich instinktiv zurück, als sich sein Blick auf sie richtete, aber Khán Thorwens Hand lag immer noch fest auf ihrer Schulter und sie kollidierte mit seiner Brust.

„Was hast du zu sagen, Mädchen?“

Rhea schluckte und ihre Stimme stockte leicht, als sie zu sprechen begann. „Vor drei Monden gab es einen Angriff auf einige Uluwayt … wir konnten einen der Angreifer festnehmen. Er sagte …“, sie zögerte, „…, dass er von … von Eurem Clan geschickt worden sei, Khán Myrat.“

In der Menge brach Empörung aus, und Helion Myrat ließ seine Aura erneut aufflackern. Es war nur ein kurzer Impuls, aber effektiv genug, um die Ordnung wiederherzustellen. „Fahr fort, Kind“, verlangte er mit ernster Stimme, und Rhea spürte, wie sich seine ganze Aufmerksamkeit auf sie richtete.

Rhea leckte sich nervös über ihre trockenen Lippen. Ihre Kehle fühlte sich rau an. „… da befahl Meister Kayron einen Angriff, um die Leute zu rächen, die wir verloren haben …“

„Der Überfall auf den Außenposten“, kommentierte Khán Thorwen grimmig.

Rhea nickte zaghaft. „Der Mann, den wir gefangen genommen haben … er hatte ein Zeichen auf seinem Schlüsselbein. Es ist dasselbe, das dieser Mann unter seinem Schal verbirgt. Ich habe es gerade gesehen.“

Sie zeigte auf den knienden Mann.

Ihre Schulter fühlte sich plötzlich kalt an, als Khán Thorwen die Hand entfernte, und auf den Gefangenen zuging, um das ausgefranste Tuch von seinem Hals zu reißen.

In der Stille, die entstand, während alle den schwarzen Fleck anstarrten, konnte Rhea ihr eigenes Herz schlagen hören.

Dann durchschnitt Khán-an Helions Stimme die Stille; hart und scharf, wie polierter Stahl. „Sperrt ihn weg. Sorgt dafür, dass er nicht entkommen kann. Wir müssen dieser Sache auf den Grund gehen, bevor wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen.“

„Khán-an! Ihr könnt diesem Kind doch keinen Glauben schenken!“, schnappte eine alte Frau und verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse größter Missbilligung. „Sie ist eine Uluwayt! Man kann ihr nicht trauen!“

Khán-an Helion bedachte die protestierende Frau mit einem ruhigen Blick. „Eure Meinung über die Integrität des Uluwayt-Clans ist mir durchaus bewusst. Aber in diesem Fall können wir nicht zulassen, dass unser Urteilsvermögen durch persönliche Interessen getrübt wird. Wir werden diese Vorwürfe sorgfältig prüfen, bevor wir den prekären Waffenstillstand mit dem Uluwayt-Clan grundlos brechen.“

Die Frau schnaubte.

Khán-an Helions Hand legte sich auf Rheas Schulter. Schwer und endgültig. „Bis dahin nehmen mein Bruder und ich dieses Kind in Gewahrsam. Jetzt lasst uns allein.“

~*~

Die Tür schloss sich hinter ihnen und Rhea sah sich plötzlich wieder den prüfenden Blicken der beiden Myrat-Geschwister ausgesetzt.“Kind.“

Rhea warf dem älteren Myrat-Bruder einen nervösen Blick zu. „Ja, Khán-an Myrat?“

Khán-an Helion lehnte sich vor und musterte sie mit einem eindringlichen Blick. „Erzähle uns alles, was du über den Angriff auf deine Sippe weißt. Lass nichts aus, auch wenn es noch so unwichtig erscheint.“

In seiner Stimme schwang immer noch Autorität mit, und obwohl er ihr in keiner Weise gedroht hatte, wusste Rhea, dass er eine Antwort von ihr erwartete.

Sie zupfte nervös an ihrem Ärmel herum. „Ich weiß nicht viel. Ich hatte Waschdienst, als drei der Wachen einen Mann hereinbrachten. Er trug schwere Stiefel und eine seltsame Kette, die klirrte, wenn er ging. Sein Hemd war am Kragen zerrissen und auf seinem Hals sah ich dieses seltsame dreieckige Symbol. Die Wachen brachten ihn zu Khán-an Kayron, und kurz darauf sprachen alle davon, dass der Myrat-Clan Attentäter angeheuert hatte, um einen Anschlag auf uns zu verüben. Khán-an Kayron war wütend, und viele unserer Leute verlangten, zurückzuschlagen … also … taten sie das … Das ist alles, was ich weiß.“

Sie biss sich unruhig auf die Lippe und wartete nervös auf ihre Reaktion.

„Ich verstehe.“ Khán-an Helion tauschte einen kurzen Blick mit seinem Bruder. „Ich danke dir, Mädchen.  Ich werde mich an Kayron wenden, um ihn über die heutigen Geschehnisse zu informieren und eine Untersuchung des Vorfalls zu veranlassen. Es erscheint mir höchst befremdlich, dass unsere beiden Clans von Angreifern mit demselben Symbol attackiert werden. Wenn deine Angaben der Wahrheit entsprechen, hätte das schwerwiegende Folgen.“

Er erhob sich. „Ich bin mir bewusst, dass dir mein Bruder versprochen hat, dich am Leben zu lassen und dir deine Freiheit zu schenken, aber ich befürchte, wir müssen dich noch ein wenig länger bei uns behalten.“

Rhea überkam plötzlich ein mulmiges Gefühl, das sich noch verstärkte, als Khán-an Helion auf sie zutrat und seine Hand hob.

Sie kniff die Augen zusammen, in halber Erwartung, geschlagen zu werden, doch der schmerzhafte Hieb blieb aus. Stattdessen legte sich etwas Schweres und Warmes auf ihren Kopf, und sie blinzelte, als sie den sanften Ausdruck in seinem Gesicht sah. „Du wirst zu deiner Sippe zurückkehren. Bis dahin hast du mein Wort als Khán-an Myrat, dass dir kein Leid widerfahren wird, solange du in unseren Händen bist.“

Rhea wünschte sich wirklich, sie könnte ihm glauben, aber sie wusste, wie schnell sich die Umstände ändern konnten. Sollte sich die Situation zum Schlechten wenden, dann würde sie die Erste sein, die starb.

Dennoch war diese unerwartete Güte überraschend. Khán-an Helion und Khán Thorwen mochten zwar furchteinflößend sein, aber bisher hatten sie ihr nichts angetan.

Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, wenn sie diejenigen wären, die ihr das Leben nehmen würden. Rhea war sich sicher, sie würden sie nicht leiden lassen.

Sie schmiegte sich in die Berührung. „Ihr und Euer Bruder seid beide sehr freundlich, Khán-an Myrat. Sollte ich wirklich sterben müssen, dann hoffentlich durch eure Hand.“

Khán-an Helion erstarrte. Rhea fand, dass er irgendwie bestürzt aussah.

Sie warf einen Blick auf seinen Bruder. Khán Thorwen schien ähnlich betroffen zu sein.

Sie runzelte die Stirn. Hatte sie etwas Falsches gesagt?

„Khán-an Myrat?“, erkundigte sie sich zaghaft, „Ist alles in Ordnung?“

Khán-an Helions Lippen lächelten sie an, aber seine Augen blickten traurig. „Ja, Kleines.“ Er streichelte ihr über den Kopf. „Es ist alles in Ordnung.“

~*~

Thorwen war überfordert. Sein Bruder war mit seinen Verpflichtungen beschäftigt, daher war es seine Aufgabe, über das Mädchen zu wachen.

Das Problem war, dass er nicht wusste, was er mit ihr machen sollte. Wie sollte man mit dem Kind eines Feindes umgehen, das einem in die Hände gefallen war?

Er konnte sie weder mit nach draußen nehmen, noch konnte er sie zum Spielen wegschicken oder einen anderen damit beauftragen, sich um sie zu kümmern.

Am einfachsten wäre es natürlich, sie einzusperren, aber er konnte sich nicht dazu durchringen, das Kind zur Einsamkeit zu verdammen. Die Vorstellung, sie für eine unbestimmte Zeit in irgendeinem kalten, dunklen Raum auszusetzen, missfiel ihm.

„Kannst du lesen?“, erkundigte er sich schließlich.

Das Mädchen nickte stumm.

Das war immerhin ein Anfang. Er schritt auf das Bücherregal zu und überflog die Titel. Nichts davon würde er als kindgerecht bezeichnen.

Schließlich stieß er auf ein dickes Pflanzenbestimmungsbuch und zog es heraus. Ein rasches Überfliegen bestätigte ihm, dass er es ohne Bedenken aushändigen konnte.

„Dann lies das hier.“

Kleine Hände griffen nach dem Buch, und Thorwen hielt inne, als er realisierte, dass es viel zu schwer für sie war.

„Ich werde es für dich auf den Boden legen. Sei vorsichtig. Es ist schwer.“

Er legte das Buch auf den Teppich neben seinem Schreibtisch.

Thorwen kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück, und für die nächsten zwei Stunden hörte man nur das leise Rascheln von Papier, als das Mädchen behutsam durch die Seiten blätterte.

Überraschenderweise genoss er die unaufdringliche Gesellschaft.

~*~

Das Buch war wirklich interessant, und die Abbildungen der Pflanzen waren hübsch anzusehen. Rhea war fasziniert von der Detailgenauigkeit.

„Mädchen“, riss Khán Thorwens Stimme sie aus ihrer Bewunderung, „Weißt du, wie man einen Tuschestein reibt?“

Rhea hob ihren Kopf. „Ja, Khán Myrat. Wollt Ihr, dass ich Euch helfe?“

Khán Thorwen neigte den Kopf. „Wenn du so nett wärst.“

Rhea schloss vorsichtig das Buch und stand auf.

Der Tuschestein lag auf dem Schreibtisch.

Aber er war zu hoch, als dass sie ihn hätte erreichen können.

Rhea biss sich auf die Lippe. „Ähm, Khán Myrat?“, begann sie zögernd.

„Was ist?“, erkundigte sich der Mann, während er ein dickes Papier auf seinen Schreibtisch legte.

„Ich … ich komme nicht an den Stein heran. Der Schreibtisch ist zu hoch.“

Khán Thorwen hielt inne, dann wandte er den Kopf und sah sie an. Sein Blick wanderte von dem Schreibtisch, über den sie kaum hinwegsehen konnte, zu ihr und wieder zurück.

Für einen kurzen Moment flackerte so etwas wie Belustigung in seinem Blick auf, ehe er die rechte Seite seines Schreibtisches freiräumte.

Zwei Hände griffen nach ihr, und plötzlich fand sich Rhea auf dem Schreibtisch wieder. „Das sollte das Problem lösen“, kommentierte er schlicht.

Rhea lächelte leicht, als sie den Tintenstein ergriff. „Ja, Khán Myrat.“

~*~

Thorwen hatte gerade seinen Brief beendet, als er spürte, wie sich die Signatur seines Bruders der Tür näherte. „Herein.“

Helion verlor keine Zeit und trat sofort ein. Seine Aufmerksamkeit fiel sofort auf die ungewöhnliche Szene, die sich vor ihm abspielte.

Thorwen übersah geflissentlich die zuckenden Lippen und das vergnügte Funkeln in seinen Augen, und der amüsierte Ausdruck in Helions Gesicht verwandelte sich in Zuneigung.

Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Ich habe Kayron informiert. Nun können wir nur hoffen, dass er antwortet.“

„Das wird er“, dessen war sich Thorwen sicher.

Er würde es dem unberechenbaren Uluwayt-Oberhaupt sogar zutrauen, Helions Schreiben mit einem persönlichen Besuch zu beantworten.  „Hast du den Wachen mitgeteilt, dass sie nicht schießen sollen, falls Kayron sich entschließt, hier aufzutauchen?“

Helion warf ihm einen leicht amüsierten Blick zu. „In der Tat habe ich sie vorgewarnt. Sie werden nach mir schicken und keine … überstürzten Entscheidungen treffen.“

„Gut.“ Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, war ein Scharmützel auf ihrem Gelände.

„Allerdings.“ Thorwen bemerkte, dass Helion zu seinem Schreibtisch blickte.

Er folgte seinem Blick und sah, wie sich das Mädchen über die Tischplatte beugte und versuchte, den zu Boden gefallenen Pinsel aufzuheben. Sie wankte dabei bedrohlich. Thorwen verspürte einen überraschenden Anflug von Sorge.

Rasch schritt er zu ihr herüber, packte sie am Kragen ihres Hemdes und hob sie hoch, bis ihre Augen auf gleicher Höhe mit seinen waren und sie seinem strengen und unbeeindruckten Blick ausgesetzt war. „Was, denkst du, tust du da?“

Das Kind wich seinem Blick aus. „Ich … wollte nur den Pinsel aufheben.“

Thorwen verengte seine Augen. „Und da hieltst du es für ratsam, dich auf den Bauch zu legen und dich mit dem Gesicht nach unten über Tisch zu lehnen?“

Sie zuckte zusammen und senkte den Kopf.

Thorwen ergriff ihr Kinn und neigte ihn wieder nach oben, sodass sie die Missbilligung in seinem Gesicht sehen konnte. „Das war eine sehr törichte Idee. Du hättest dich ernsthaft verletzen können. Was glaubst du, wie dein Clanoberhaupt reagieren würde, solltest du in unserer Obhut Verletzungen davontragen?“

Ihre Augen weiteten sich vor Schrecken. „Ich … es tut mir leid, Khán Myrat. Soweit habe ich nicht gedacht.“

„Offensichtlich.“

Helion legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich glaube, sie ist sich ihres Fehlers bewusst, Bruder. Habe ich recht, Kleines?“

„Ja, Khán-an Myrat“, antwortete sie leise, „ich werde vorsichtiger sein.“

„Gut“, Thorwen gab ihr Kinn frei und setzte sie behutsam wieder zu Boden.

Er seufzte stumm, als sie ihren Blicken auswich. Er hatte nicht in seiner Absicht gelegen, sie abermals zu verängstigen.

Thorwen legte eine Hand auf den demütig gesenkten Kopf. „Du bist voller Tintenflecken. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du ein Bad nimmst.“

Sie nickte leicht gegen seine Handfläche.

Helion sah ihn auf eine recht eindeutige Weise an. Thorwen neigte den Kopf, als er die Intention hinter dem Blick erkannte. Er wusste, was das Funkeln in den Augen seines Bruders bedeutete. Helion glaubte, Thorwen würde etwas belasten und wollte mit ihm darüber reden.

Er wusste aus Erfahrung, dass es keinen Weg gab, sich davor zu drücken. Helion würde nicht aufhören, ihn zu bedrängen, bis sie den Grund für Thorwens derzeitigen Gemütszustand nicht in aller Ausführlichkeit erörtert hatten.

~*~

„Du hast dir Sorgen gemacht.“

Thorwen sah seinen Bruder stirnrunzelnd an. „Wovon redest du?“

Helion verschränkte die Finger und stützte sein Kinn auf die gekreuzten Hände. „Ich konnte deine Besorgnis sehen, als sie beinahe vom Tisch gestürzt wäre. Leugne es nicht. Ich kenne dich, kleiner Bruder. Für alle anderen magst du ein verschlossenes Buch sein, doch ich kenne dich ganz genau. Außerdem verriet dich die beruhigende Geste im Anschluss an deinen Tadel.“

Thorwen seufzte. „Was soll ich deiner Meinung nach tun, Bruder? Es scheint mir, als ginge ich eine Bindung mit jemandem ein, den ich möglicherweise töten muss, und dennoch kann ich mich nicht dazu bringen, sie zu misshandeln.“

Helions Miene wurde sanft. „Du machst dir schon wieder zu viele Gedanken, Thor.“ Der vertraute Spitzname ließ Thorwen aufhorchen. Sein Bruder hatte seinen Namen schon sehr lange nicht mehr abgekürzt. „Du bist nicht unser Vater. Tappe nicht in die Falle seiner toxischen Lehren.  Es ist nicht falsch, Güte und Mitgefühl zu zeigen. Wir können nicht wählen, in welche Familie wir hineingeboren werden – und so wie wir nicht für die Sünden unseres Vaters verantwortlich sind, ist dieses Kind nicht für die Sünden derer verantwortlich, die vor ihr kamen – und doch zahlt sie in diesem Moment für die Fehler der Älteren. Willst du sie wirklich weiter für etwas strafen, das nicht in ihrer Verantwortung liegt? Willst du unser Vater werden?“

Thorwen erstarrte. „Nein“, stieß er schließlich hervor. Das wollte er nicht. „Niemals wie er.“

Helion lächelte. „Gut, denn du, kleiner Bruder, bist ein viel besserer Mann, als er es je hätte sein können. Ich habe uneingeschränktes Vertrauen in dich – und ich bin stolz darauf, dich meinen Bruder nennen zu dürfen.“

Thorwen war sprachlos, und er spürte, wie seine Ohren leicht heiß wurden. Er hüstelte. „Danke … Hel. Ich liebe dich auch.“

Sein Bruder grinste so breit, dass er selbst den Himmel hätte erhellen können.

~*~

Ihr gemeinsamer Moment wurde durch dreimaliges lautes Klopfen unterbrochen.

„Khán Thorwen?“, rief eine Stimme vor der Tür. „Seid Ihr da? Es gab einen Zwischenfall mit Eurem Schützling im Badehaus.“

Thorwen reagierte im selben Moment wie sein Bruder.

~*~

Die Krieger, die die Tür blockierten, entfernten sich augenblicklich, als sie ihr Clanoberhaupt und seinen Bruder eintreffen sahen.

Thorwen schritt an ihnen vorbei und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Seine Augen wanderten von einer feindselig dreinblickenden älteren Frau zu zwei durchnässten Myrat Kriegern, über eine dampfende Badewanne und blieben schließlich an einer weiteren Wache hängen, die ein leise wimmerndes Kind in den Armen hielt, das nur in ein Handtuch gewickelt war.

Seine Augen verengten sich gefährlich, als er die verbrühte Haut des Kindes sah, und er spürte eine Welle kalter Wut in seinen Adern.

Er öffnete den Mund, um eine Erklärung zu fordern, hielt aber inne, als die Luft plötzlich drückend wurde und sich Helions Aura wie eine bedrohliche, erdrückende Decke über dem Raum ausbreitete.

Thorwen beobachtete mit Genugtuung, wie die alte Frau und die beiden Männer angesichts der schieren Wildheit dieser Kraft erbleichten.

„Was ist passiert?“ Die Stimme seines Bruders war trügerisch sanft, doch die geballte Macht, die ihn umgab, täuschte über seine Ruhe hinweg.

„Diese Göre ist schuld!“, kreischte die Frau. „Sie wollte nicht baden, obwohl Khán Thorwen mir befohlen hatte, ihr beim Waschen zu helfen! Sie hat sich so sehr gewehrt, dass ich die Wachen zu Hilfe rufen musste!“

Das Mädchen zitterte in den Armen des Klons. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. Ihre Stimme war schmerzerfüllt, „Aber das Wasser … es brennt.“

Thorwen spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg. „Lasst mich das rekapitulieren“, begann er, gefährlich ruhig. „Sie haben eine Wanne mit siedend heißem Wasser gefüllt und wollten, dass das Kind hineinsteigt. Als sie sich verständlicherweise dieser törichten Anweisung widersetzte, haben Sie versucht, sie mit Gewalt hineinzuzwingen.“

„Sie wehrte sich zu Recht“, fuhr Helion fort, „und Sie hatten nichts Besseres zu tun, als die Wachen zu rufen, die unter dem Vorwand, dass sie sich den Befehlen meines Bruders widersetze, eifrig dabei halfen, ein wehrloses Mädchen in ein Becken mit brühend heißem Wasser zu stoßen. Ist das richtig?“ Die letzte Frage stellte er mit einer scharfen, schneidenden Freundlichkeit, die nur eines bedeuten konnte.

Helion war außer sich vor Wut.

Ein ungewöhnlicher Anblick, denn sein älterer Bruder war normalerweise nicht leicht zu verärgern, aber es gab ein paar Dinge, die Helions Zorn erregten. Grundlose Gewalt gegenüber Kindern war eines dieser Dinge. Grundlose Gewalt gegenüber Kindern, die unter seinem Schutz standen, war noch schlimmer.

Sein Bruder hatte sein Wort gegeben, sie vor Leid zu bewahren, und dennoch hatte sie durch Helions eigene Sippe schwerste Verletzungen erlitten.

„Ich hörte sie schreien und intervenierte“, ergänzte die Wache, die das Kind hielt, und neigte den Kopf in Richtung der beiden durchnässten Wachen.

„Gute Arbeit, Eren.“ Thorwen durchquerte den Raum, um das Kind in Empfang zu nehmen.

Eren reichte sie ihm vorsichtig, und sie zitterte leicht, als sie sich in seinen Armen zusammenrollte und ihre Wange gegen seine Brust schmiegte. „Khán Myrat … es … tut mir … leid.“

Thorwen verengte seine Augen beim Anblick der großflächigen Verbrennungen, die ihren dünnen Arm und den oberen Teil ihres Oberkörpers bedeckten, und presste sie instinktiv fester gegen seine Brust. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest, mein Kind“, erwiderte er mit fester Stimme und kehrte an die Seite seines Bruders zurück.

Helion bedachte die drei Übeltäter mit einem harten Blick. „Ich bin zutiefst enttäuscht. Ihr seid Teil meiner Sippe, Erwachsene, und dennoch habt ihr zugelassen, dass eure persönlichen Empfindungen euer Urteilsvermögen trüben, und eure Wut an einem wehrlosen Kind ausgelassen. Eure Handlungen waren unehrenhaft, und Ihr habt Schande über mich und euren Clan gebracht, indem Ihr ein Kind angegriffen habt, das unter meinem persönlichen Schutz steht. Das wird für euch alle ernsthafte Konsequenzen haben. Wachen, sperrt sie weg.“

„Khán-an!“, beschwor die alte Frau, als man sie abführte, „ich flehe Euch an-“

Sein Bruder ignorierte sie und wandte sich der Tür zu. „Komm Bruder, unser Schützling benötigt Heilung.“

~*~

Wäre die Ursache nicht so gravierend gewesen, so hätte Helion sich über Thorwens Fürsorglichkeit amüsiert. So aber erlaubte er sich nur ein schwaches Lächeln, als sein Bruder das Kind behutsam von seiner Brust löste und auf der Strohmatte ablegte.

Helion beugte sich vor, um das Ausmaß der Verbrühungen in Augenschein zu nehmen, und runzelte besorgt die Stirn, als sie zurückzuckte. Ein gequältes Wimmern entwich ihren Lippen, als die Bewegung ihre Schmerzen nur noch verschlimmerte.

Thorwen legte seine Hand resolut auf die unverletzte Schulter und hielt sie fest, um zu verhindern, dass sie sich weiterbewegte. Helion sah, wie sein Bruder beruhigend die schmale Schulter drückte.

„Kleines“, begann er und griff nach einem der Heilkristalle. „Ich werde jetzt damit beginnen, dich zu heilen. Versuche, dich zu beruhigen.  Du bist jetzt in Sicherheit, Rhea.“

Das Mädchen riss die Augen auf, als er so unerwartet ihren Namen nannte. Helion begegnete ihrem überraschten Blick mit einem leichten Lächeln.

Neben ihm richtete sich Thorwen auf. Ein Ausdruck tiefer Nachdenklichkeit lag auf seinem Gesicht.

Für eine Weile herrschte Stille und der kleine Körper entspannte sich langsam.

„Es tut mir leid“, murmelte sie unerwartet.

Helion hob eine Augenbraue. „Wovon sprichst du?“, erkundigte er sich, ohne seinen Blick von ihren Armen abzuwenden.

Sie drehte ihren Kopf und ihre Wange streifte den Handrücken seines Bruders. Seine Hand lag noch immer auf ihrer Schulter. „Ich habe einen Befehl verweigert … und … ich habe eine Eurer Wachen gebissen …“

Thorwen schnaubte amüsiert und Helion stieß ein überraschtes Lachen aus. „Ist das so?“, fragte er leichthin, „es scheint, Bruder, wir haben eine kleine Kriegerin in unseren Händen. Ich denke, wir sollten uns umgehend ein paar Gegenmaßnahmen einfallen lassen, sonst werden auch wir einem solch heimtückischen Angriff zum Opfer fallen.“

„In der Tat“, stimmte ihm Thorwen mit ernster Miene zu, „vielleicht sollten wir unserem furchtlosen Gegner ein anderes Angriffsziel bieten. Ich schlage Honigrollen vor. Ich glaube, es wird Zeit für einen Tee, wenn du hier fertig bist.“

Helion empfand eine plötzliche Welle tiefer Zuneigung für seinen Bruder. Thorwen war ein strenger Mann, und dennoch spielte er ohne zu zögern mit, um ihre kleine Gefangene zu beruhigen. Er wusste, dass Thorwen immer wieder befürchtete, er könnte so werden wie ihr Vater, doch es waren Momente wie dieser, die bewiesen, dass er so viel mehr war.

Ihr Vater hätte sich niemals auf ein Kind des Uluwayt Clans eingelassen. Er hätte seine eigene Sippe nicht davon abgehalten, sie anzugreifen – und vor allem hätte er ihr nicht gestattet, seiner Gegenwart Trost abzugewinnen.

Ganz im Gegenteil. Sie hätte zu seinen Füßen gekauert, verängstigt und malträtiert, und der einzige Kontakt, den er zugelassen hätte, wäre ein weiterer Schlag gewesen.

Helion legte seine leuchtende Hand auf ihren Oberarm und winzige Finger umklammerten den Ärmel seines Bruders.

Thorwen protestierte nicht.

Ja, ganz und gar nicht wie ihr Vater.

~*~

Helion benötigte fast eine Stunde, um die Verbrennungen zu heilen, während das Mädchen einfach nur ruhig dalag.

Er wrang das Tuch aus und tupfte vorsichtig die Überreste der Heilsalbe ab. „So, wieder so gut wie neu.“

Das Mädchen betrachtete ihre makellose Haut mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen. Dann hob sie den Kopf und sah ihn an. Tiefe Dankbarkeit leuchtete in ihren schwarzen Augen. „Ich danke Euch, Khán-an Myrat.“

„Es gibt keinen Grund, mir zu danken“, entgegnete er ernst, „Wären wir wachsamer gewesen, dann wäre dies nicht passiert. Ich gab dir mein Wort, dass dir kein Leid widerfahren würde, und dennoch ist es geschehen. Ich entschuldige mich im Namen meines Clans.“

Sie schüttelte so vehement den Kopf, dass ihr Haar flatterte. „Bitte entschuldigt Euch nicht, Khán-an Myrat. Ihr habt mich verschont. Es steht mir nicht zu, mehr von Euch zu erwarten, obwohl ich Euch und Eurem Bruder für eure Barmherzigkeit sehr dankbar bin.“

Keiner der Männer wusste, wie er darauf reagieren sollte. Nichts von dem, was sie gesagt hatte, war falsch, auch wenn es sich so anfühlte. Sie war eine Gefangene, und ihr Wohlbefinden hing einzig von ihrer Gunst ab. Aber sie war auch Thorwens Wohltäterin und ein Kind unter ihrem Schutz.

„Vielleicht“, räumte Helion schließlich ein, denn ihre Worte waren zutreffend, auch wenn sie ihm persönlich nicht gefielen. „Doch mein Wort gebe ich nicht leichtfertig.“

Er sah, wie sich ihre Augen vor Schreck weiteten, und ahnte bereits, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. „Es gilt, unabhängig davon, wem ich es gebe. Daher hoffe ich, dass du meine Entschuldigung akzeptieren wirst.“

Die Anspannung fiel von ihren Schultern, als sie erkannte, dass er sie nicht missverstanden hatte, und sie nickte. „Natürlich werde ich das, Khán-an Myrat.“

Ein ironisches Lächeln huschte über Helions Züge. „Wir werden sehen. Im Augenblick ist deine Vergebung bedeutungslos. Ich werde nochmals darum bitten, wenn dein Leben nicht mehr in unseren Händen liegt und du das Bedürfnis hast, mich besänftigen zu müssen. Jetzt allerdings sollten wir dir erst einmal anständige Kleidung besorgen – und ich erinnere mich deutlich daran, dass jemand Honigrollen erwähnt hat. Ich bin am Verhungern.“

Thorwen schnaubte. „Das bist du immer, Bruder.“

Sie hatten sich gerade an zwei Tellern Honigrollen gütlich getan, als ein lautes Pochen an der Fensterscheibe ihre Teestunde unterbrach.

Drei Köpfe wandten sich um und Helions Augen leuchteten auf, als er die bunten Flügel vor der makellosen Scheibe sah. „Kayron hat geantwortet!“

Thorwen öffnete rasch das Fenster. Der Vogel flatterte hinein und stieß einen lauten, fröhlichen Piepser aus.

Helion entnahm die kleine Schriftrolle aus dem Schnabel und öffnete sie mit gespannter Erwartung.

Thorwen bemerkte nur beiläufig, dass der Vogel wieder davonflog. Er war zu beschäftigt damit, seinen Bruder zu beobachten. Oder besser gesagt, dessen erfreuten Gesichtsausdruck.

„Er möchte mit mir sprechen!“, informierte ihn Helion und er klang dabei fast ein bisschen übermütig. „In zwei Stunden! Und er hat ausdrücklich gesagt, ich zitiere: ‚Bring deinen nervigen Bruder und dieses törichte Kind mit.‘

Thorwen rollte mit den Augen. „Das klingt ganz nach Kayron. Hat er denn auch gesagt, wo er sich mit uns zu treffen gedenkt? Oder erwartet er etwa, dass wir auf magische Weise seine Gedanken erraten?“

Er ignorierte Helions unbeeindruckten Blick mit geübter Leichtigkeit.

„An der Weide“, antwortete sein Bruder, „wo wir uns früher schon oft getroffen haben.“

„Wunderbar“, erwiderte Thorwen trocken. „Ich kann es kaum erwarten.“

~*~

Rhea war nervös. Sie wusste, dass sie irgendwann Khán-an Kayron gegenübertreten musste, aber sie hatte nicht erwartet, dass es so bald sein würde.

Sie wartete in Khán Thorwens Armen, bis eine hochgewachsene Gestalt am anderen Flussufer erschien.

Khán-an Helion trat vor, um sie zu begrüßen. „Kayron.“

Rhea fand, dass sich seine Begrüßung sehr vergnügt anhörte.

„Helion“, erwiderte ihr Clanoberhaupt schlicht. Seine strengen Augen richteten sich auf sie und musterten sie so eingehend, als wollte er sie auf Verletzungen überprüfen.  „Ich verlange eine Erklärung. Eine Sorgfältigere als die, die du in deinem lächerlichen Brief gegeben hast.“

„Natürlich“, stimmte Khán-an Helion leichthin zu und begann dann mit einer ausführlichen Beschreibung der letzten zwei Tage.

Khán-an Kayron Gesicht wechselte von Desinteresse zu Missbilligung, und sein Gesicht verfinsterte sich zusehends, als Khán-an Helion auf die Angreifer zu sprechen kam. „Wir haben sie nicht beauftragt“, knurrte er barsch. „Wir können unsere Kämpfe selbst austragen und haben es nicht nötig, auf solch schäbige Methoden zurückzugreifen. Ganz zu schweigen davon, dass ich Besseres zu tun habe, als mit deinem lästigen Bruder Streit zu suchen.“ Er warf Rhea einen scharfen Blick zu. „Zum Beispiel nach Kindern zu suchen, die anscheinend beschlossen haben, die Siedlung zu verlassen, obwohl man es ihnen verboten hat.“

Rhea zuckte leicht zusammen und Khán-an Kayron richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Khán-an Helion. „Wie war das noch mit dem Zeichen, das du erwähnt hast?“

Rheas Gedanken schweiften ab, als die drei Männer begannen, darüber zu diskutieren, was es mit den Angreifern auf sich haben könnte.

Sie wurde langsam müde und kuschelte sich tiefer in Khán Thorwens Arme. Sie waren angenehm warm und gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit.

Ihre Augenlider wurden plötzlich sehr schwer, und ihr Kopf sank gegen seine breite Brust.

Das Letzte, was sie hörte, war das gleichmäßige Pochen seines Herzens, bevor sie schließlich in einen tiefen Schlaf fiel.

~*~

Thorwen spürte, wie sich das Kind in seinen Armen bewegte und den Kopf gegen seine Brust lehnte.

Er hob die Hand und strich ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht.

Nur am Rande bekam er mit, dass sowohl Helion als auch Kayron verstummt waren. Thorwen hob den Kopf und sah, dass beide in seine Richtung starrten.

Auf Helions Lippen lag ein amüsiertes Lächeln. Kayron hatte die Arme verschränkt und das Gesicht zu einer Grimasse verzogen. Aber irgendwie sah er weniger grummelig aus als sonst. Thorwen war sich sicher, eine gewisse Belustigung in seinen Augen schimmern zu sehen.

Das Uluwayt Clanoberhaupt schnaubte. „Dass ich Thorwen Myrat einmal so sehe. Vielleicht ist zwischen unseren Clans doch nicht alles so verloren, wie ich glaubte.“

Helions Kopf ruckte herum. „Kayron, heißt das-“

Kayron hob eine Hand. „Nicht so vorschnell. Erst müssen wir herausfinden, was es mit diesen Angreifern auf sich hat, danach“, er machte eine Pause und warf einen nachdenklichen Blick auf das Kind in seinen Armen. „Können wir über alles Weitere reden.“

Thorwen hob eine Augenbraue. Das war unerwartet, aber nicht unwillkommen.

Helion grinste so breit wie selten zuvor und er sah aus, als würde er am liebsten einen Luftsprung machen.

Glücklicherweise verkniff er sich das aber.

Thorwen schüttelte den Kopf über seinen Enthusiasmus und Kayron rieb sich die Nasenwurzel.  Wahrscheinlich bereute er es schon wieder, dass er sich darauf eingelassen hatte.

Glossary

  • Khán: Anrede für einen Krieger
  • Khán-an: Anrede für den Clanführer

Von Marie