Status: Abgeschlossen
Serie: Ilwana

Kinder

Die Mauer war da, seit er sich erinnern konnte.

Sie war kalt und fast unsichtbar, doch für ihn war ihre Präsenz allgegenwärtig.

Er spürte sie in der Glätte unter seinen Fingern. Er sah sie in den winzigen Handabdrücken, die seine Handflächen hinterließen, wenn er sich dagegen lehnte, und er hörte sie in dem kristallenen Klingen, das der Reißverschluss seiner Jacke von sich gab, wenn er dagegen streifte.

Durch die Mauer konnte er die winzigen Figuren sehen – frei bewegten sie sich auf der Straße unter ihm.

Einwohner, wie seine Wächter sie nannten.

Sie lebten in diesem Dorf.

Sie hatten keine unsichtbare Wand vor sich, wie er sie hatte.

Sie konnten sich frei bewegen.

Einwohner.

Was für ein seltsames Wort.

Was für ein seltsames Konzept.

Sein Blick wanderte weiter die Straße hinab zu dem kleinen grünen Punkt in der Ferne.

„Das ist ein Spielplatz“, kommentierte eine monotone Stimme hinter ihm.

Er sah die blütenweiße Maske von seiner unsichtbaren Mauer reflektieren.
„Ein Spielplatz? Was ist das?“

„Ein Ort, an dem Kinder spielen“, antwortete die monotone Stimme.

„Kinder?“ er formte das Wort, doch es blieb ohne Gestalt.

„Die Zeitspanne zwischen der Geburt eines Menschen, und der Moment, in dem er ein arbeitendes Mitglied der Gesellschaft wird.“ Der Maskierte trat näher an ihn heran.

Er summte nachdenklich. „Dann bin ich auch ein Kind?“

„Nein.“ Die Antwort kam sofort und ohne Zögern. Eine Hand landete auf seiner Schulter. „Du bist anders. Du bist besonders.“

Er drückte seine Handflächen gegen seine Mauer und blickte in Richtung Spielplatz. „Sie springen auf und ab. Warum?“

„Sie spielen ein Spiel.“

„Ein Spiel?“ Er war fasziniert: „Ist das wie Training? Wie die Dinge, die ihr immer mit mir macht?“

Der Mann schwieg für eine Sekunde. „Es bestehen Ähnlichkeiten.“

Er lehnte sich noch fester gegen das Glas. „So, sie lernen, wie man ausweicht? Aber … sie sehen nicht so aus, als würden sie trainieren. Sie sehen … ohne Schmerz aus. Ihre Gesichter sind klar.“

„Du liegst falsch.“ Der Griff des Mannes verstärkte sich. „Das Kind dort drüben weint.“

Er folgte seinem Blick.

Ein Junge kauerte auf dem Boden, seine Knie fest gegen die Brust gezogen. Eine Frau rannte sofort zu ihm und zog ihn eng an ihre Brust.

Er war wie gebannt. „Was tut sie da?“

„Sie bestraft ihn, wie es sich gehört“, entgegnete die Maske, „Es besteht kein Grund, Tränen über etwas derartig Belangloses zu vergießen.“

„Aber …“ er presste seine Stirn gegen das Glas, „es sieht … angenehm aus.“

Er hatte den Satz kaum beendet, als die Hand auf seiner Schulter ihn plötzlich herumriss und er mit brutaler Härte gegen den Leib des Mannes gezogen wurde. Der Griff war so fest, er konnte kaum noch atmen.

„Findest du das angenehm?“

Er schüttelte den Kopf. „Es tut weh.“

Abrupt ließ der Mann ihn los und er sank nach Luft ringend zu Boden.

„Ja, das tut es“, stimmte der Maskierte zu. Er trat nicht zurück.

Er drehte sich um und legte die Hände sanft gegen seine Mauer. Er sah, noch immer heftig atmend, zum Spielplatz hinüber.

Die Frau hielt das Kind eisern umschlungen.

Er bedauerte es.

Regen

Er kniete auf dem Boden, die Stirn gegen seine ewige Mauer gelehnt, und zeichnete mit einem schmalen Finger die Regentropfen nach, die auf der anderen Seite des makellosen Glases herabrannen.

„Sie sind wunderschön“, flüsterte er. „So winzig. Sie bewegen sich. Sie schmelzen und trennen sich.“ Er legte den Kopf schief. „Ich kann hören, wie sie herunterfallen. Sie sind laut.“

Er legte seine Hände ehrfürchtig gegen seine Mauer und sah fasziniert zu, wie winzige Tropfen auf ein grünes Blatt hernieder donnerten. Es bebte unter dem unerbittlichen Trommeln des Regens. „So stark“, hauchte er.

„Man nennt es Regen“, informierte ihn sein maskierter Begleiter in seinem teilnahmslosen Ton.

„Regen“, er kostete das Wort. Es schmeckte süß. „Wie fühlt er sich an?“, fragte er voller Begierde.

Die Maske trat neben ihn. „Kalt. Nass. Unangenehm.“

„So wie die Bäder, die ich immer nehme?“

„Kälter“, erwiderte die Maske, „wie eisige Nadeln, die in die Haut stechen.“

Er erschauderte. Er fühlte noch immer den scharfen Biss von dünnem, spitzem Stahl an seinen nackten Füßen. Nur einmal hatte er den Versuch gewagt, der eisigen Kontrolle seiner maskierten Betreuer zu entkommen, aber er hatte unbedingt wissen wollen, wonach Gras roch.
Er wusste es bis heute nicht.

Er warf einen mitfühlenden Blick auf die wenigen mauerlosen Menschen, die dort draußen umherliefen und sich mit seltsamen Vorrichtungen zu schützen versuchten, die sie über ihren Köpfen hielten.

Doch diese Objekte wirkten instabil, und die Mauerlosen bewegten sich mit gehetzter Geschwindigkeit. Was auch immer es war, das sie zum Schutz mit sich führten, schien nicht richtig zu funktionieren.

„Ich bin froh, dass ich drinnen bin“, urteilte er.

Er spürte den Blick der Maske auf sich, apathisch und teilnahmslos, und zwei Hände legten sich fest auf seine Schultern. „Das wird sich auch nie ändern“, versicherte ihm die Maske.

Mit einem Mal fühlte sich der Raum noch enger an, und während er dort kniete, gefangen zwischen dem Glas und dem Körper des Mannes, wurde ihm schlagartig klar, dass er die ganze Zeit völlig falsch gelegen hatte.

Er hatte nicht nur eine Mauer.

Er hatte zwei.

Von Marie