Die Legende von Miharu

Miharu war völlig ruhig. Ihre Wahrnehmung beschränkte sich einzig auf das stetige Donnern des Wasserfalls in ihren Ohren, und auf das kalte Wasser, das unablässig auf ihren Rücken prasselte.

Sie spürte, wie ihre innere Energie nach ihrer Umgebung rief und wie der Atem der Welt ihr antwortete. Ihr Herz schlug im Einklang mit der Erde, und langsam umgab sie ein sanftes, blaues Leuchten.

Sie hob die Hand.

Der Fluss zitterte und bebte. Die Oberfläche warf unruhige Wellen auf.

Etwas Langes, Großes stieg langsam empor.

Ein mächtiger Kopf erhob sich aus der Oberfläche und der gewaltige Schlangenkopf stieß ein leises Zischen aus.

Milchig-weiße Augen sahen ihr entgegen, doch Miharu bemerkte es nicht.

Ihre Hand zitterte. „Noch ein Stück“, murmelte sie leise. „Nur noch ein kleines Stück. Komm schon.“

Platsch.

Mit einem lauten Platschen fiel die Schlange in sich zusammen und tränkte alles herum in kaltem Nass.

Miharu seufzte und strich sich mit einer zitternden Hand eine nasse Strähne aus dem Gesicht.

Transformationen der Natur waren sehr kompliziert und verbrauchte enorm viel innere Energie. Vor allem die Wasserschlange war eine äußerst anspruchsvolle Transformation.

Genau deswegen wurde sie auch als Passage-Ritus angesehen. Nur jene, die es schafften, sie erfolgreich zu beschwören, durften sich Bewahrer des Wassertempels nennen.

Miharu war noch weit davon entfernt. Auch wenn ihre Wasserschlange für eine Zwölfjährige bereits sehr weit entwickelt war.

Sie klopfte sich das Wasser aus ihrem blauen Haori, der sie als vollwertiges Mitglied des Wassertempels auswies.

Sie war sehr stolz darauf, denn normalerweise verlor man erst mit sechzehn den Novizenstatus. Doch Miharus Verbindung mit der Natur war bereits ungewöhnlich weit entwickelt.

Daher trug sie nun seit zwei Monaten den Titel der Wächterin, was es ihr erlaubte, die offizielle Kleidung und das Emblem des Tempels zu tragen.

Die Gewandung ihrer Gemeinschaft war schlicht. Der blaue Haori stand für die Reinheit des Himmels und den ultimativen Wunsch, in die höchste Ebene aufzusteigen, während der schwarz-weiße Haori Himo das Gleichgewicht zwischen Ying und Yang symbolisierte.

Miharu blickte zum Himmel. Die Sonne verschwand bereits hinter dem Horizont. Kein Wunder, dass es so kalt geworden war.

Gong.

Gong.

Gong.

Drei Schläge. Es war Abendessenszeit.

Miharu schüttelte das Wasser aus ihren Haaren und ging zurück zum Flussufer.

Zum dritten Gong jedes Abends fanden sich Wächter und Bewahrer im weitläufigen Speisesaal zusammen, um gemeinsam ihr Abendmahl einzunehmen.

Miharu betrat den mit edlen Wandteppichen verzierten Speisesaal, der das Echo ihrer Schritte beinahe verschluckte.

Sie setzte sich an den Tisch der Wächter und nahm mit einem Nicken den Teller entgegen, den ihr ein männlicher Novize reichte.

Bis vor zwei Monaten war sie noch an der Stelle dieses Jungen gewesen. Es gehörte zu den Pflichten der Novizen, den Ranghöheren zu dienen.  Eine Praxis, die sie Bescheidenheit und Demut lehren sollte.

Die Mahlzeit wurde in stiller Andacht eingenommen. Das gesellige Beisammensein fand gewöhnlich während des Frühstücks und in den zwei Stunden zwischen dem Abendessen und dem Schlafengehen statt.

Der Rest des Tages war für Pflichten und Mediationen reserviert.

Miharu genoss dieses ruhige Leben sehr. Dabei hatte sie es sich nicht ausgesucht. Sie war wie viele andere Kinder schon sehr früh in den Tempel gekommen.

Wo sie vorher gewesen war, wusste Miharu nicht mehr. Sie erinnerte sich nur noch an eine gewaltige Feuersbrunst. Am Anfang hatte sie die Frage nach ihrer Herkunft sehr beschäftigt. Doch im Laufe der Jahre verlor sie immer mehr an Bedeutung.

Der Wassertempel wurde ihr Zuhause.

Und sie liebte es.

Umso glücklicher war sie, als der Große Bewahrer sie am nächsten Morgen zu sich rufen ließ.

Schon von Weitem hörte sie die sanfte Melodie, die seiner Shakuhachi entsprang.

Sie kniete sich stumm auf das Sitzkissen und lauschte dem beruhigenden Lied mit geschlossenen Augen. Verschwommene Bilder aus vergangenen Zeiten tanzten wie verblasste Erinnerungen durch ihren Geist.

Sie sah die Erde Bäume und Sträucher gebären. Sie hörte, wie der erste Wind durch die Baumwipfel wisperte und fühlte die ersten Regentropfen auf ihrer Haut.

Sie waren warm.

Dann erklang die letzte Note und für einen langen Moment hing die Melodie noch zwischen ihnen. Wie ein Echo, das nicht verstummen wollte.

Doch schließlich begann der Große Bewahrer zu sprechen. Seine Stimme war tief und fließend, wie ruhiger Fluss, dem alle Zeit der Welt gegeben war.

„Du bist nun schon seit geraumer Zeit bei uns, Miharu. Es ist an der Zeit, dass du einen weiteren Schritt auf deiner Reise gehst. Bist du dazu bereit?“

Miharu atmete tief ein und ihr Herz schlug mit einem Mal schneller. Sie wusste, was diese Frage bedeutete. Der Große Bewahrer hatte etwas in seinen Träumen gesehen. Einen Teil ihrer Bestimmung.

Sie nickte. „Das bin ich, Großer Bewahrer“, antwortete Miharu entschlossen.

Der alte Mann betrachtete sie mit einem intensiven und tiefgründigen Blick. „Die Große Schlange ist letzte Nacht in meinen Träumen erschienen. Du wirst noch heute nach Kawa reisen.“

„Kawa?“ Miharus Augen weiteten sich. „Zum Schrein, in dem die Erste Schrift aufbewahrt wird?“

„Ebendieser“, bestätigte der Große Bewahrer und nickte feierlich. „Ich möchte, dass du dich der goldenen Garde anschließt.“

Miharu erstarrte. „Die… Goldene Garde? Großer Bewahrer, ich bin nicht geeignet…“

Der Große Bewahrer hob seine Hand, um sie zu stoppen. „Friede, Kind. Du bist jung, ja, und du hast noch viel zu lernen. Doch mein Traum war eindeutig.  Dein Weg führt nach Kawa. Doch der Grund bleibt selbst mir verborgen. Die Wege der Großen Schlange sind unergründlich.“

Miharu neigte den Kopf. „Wenn das der Wille der Großen Schlange ist, werde ich tun, was Ihr sagt, Großer Bewahrer. Ich danke Euch für diese Ehre.“

Der Große Bewahrer lächelte leicht. „Ich habe großes Vertrauen in dich, mein Kind. Gehe jetzt und bereite dich vor. Du wirst in zwei Stunden aufbrechen.“

„Ja, Großer Bewahrer“, antwortete Miharu leise, noch immer überwältigt von seiner Offenbarung. „Möge die Kraft frei in Euch fließen.“

„So frei wie die Vögel am Himmel“, beendete der Große Bewahrer den rituellen Gruß.“

Miharu verbeugte sich leicht, und der Große Bewahrer setzte sein Flötenspiel fort.

Es war ein sehr seltsames Gefühl, den Wassertempel zu verlassen. Miharu war gleichermaßen aufgeregt und schwermütig.

Mit gemischten Gefühlen beobachtete sie, wie das Gebäude mit seinen weitläufigen Anlagen und hohen Türmen langsam in einer Nebelwand verschwand.

Für einen kurzen Moment sah sie noch ein letztes Mal die das Symbol des Tempels im Licht der Sonne erblitzen, dann verschwand auch die silberne Schlange in den grauen Spinnfäden.

Für einen kurzen Moment beschlich Miharu ein eigenartiges Gefühl der Panik. Sie wusste nicht, warum, aber sie fühlte sich plötzlich unruhig und für einen kurzen Moment wäre sie am liebsten umgekehrt.

Doch sie tat es nicht.

Stattdessen entfernte sich die Kutsche klappernd weiter vom Tempel, ihrem neuen Schicksal entgegen.

Es war eine dreitägige Reise nach Kawa. Ihre Karawane hielt nur kurz an, um den Pferden eine Rast zu gewähren. 

Das verdorrte Tal war nicht gerade ein gastfreundlicher Ort, und niemand hielt sich länger als nötig dort auf. Vor langer Zeit war das Tal der Schauplatz eines großen Kampfes gewesen. Dabei waren so gewaltige Kraftreserven entfesselt worden, dass der Natur sämtliche Ressourcen entzogen worden waren. Seitdem wuchs auf diesem kahlen Landstrich kein einziger Grashalm mehr. Die Luft war heiß und stickig und der Boden schwarz und tot.

Miharu stieg nur für einen Moment aus dem Wagen. Der verkohlte Untergrund ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen und sie fragte sich, wie heftig der Kampf wohl gewesen sein musste, um solch gewaltige Narben zu hinterlassen, dass nicht einmal mehr die Vögel durch diesen Landstrich flogen.

Ihr Blick wanderte gen Norden, wo in der Ferne ein scharfkantiger Fels aufragte. Die Legenden sagten, dort würde das Böse leben, doch niemand konnte genau sagen, welche Form dieses Böse hatte. Die einen sprachen von einem mächtigen Ungeheuer mit verkohlten Schuppen und rot-glühenden Augen. Andere wiederum sagten es sein Mensch gewesen, dessen Energie durch den toten Landstrich verderbt worden war.

Doch in Einem waren sich alle einig: Etwas war da.

Miharu wandte sich ab. Nun war nicht die Zeit, um alten Legenden auf den Grund zu gehen.

 

Die restliche Reise verlief ohne Zwischenfälle. Miharu war sich sicher, dass nur das Emblem des Wassertempels auf den Kutschen sie davor bewahrte, von Banditen überfallen zu werden.

Obwohl sich der Wassertempel normalerweise nicht in Kämpfe einmischte, verfügten sie über hervorragende Krieger; geschmiedet durch stundenlange Mediation und hartes Training.

Sie waren also keine leichte Beute, und die meisten wussten es besser, als sich mit ihnen anzulegen.

Miharu war dankbar dafür. Sie kämpfte nicht gern und bevorzugte friedlichere Methoden.

Eines der Pferde wieherte und die Kutsche wurde langsamer.

Dann kam die Karawane völlig zum Stehen, und Miharu schob die Vorhänge beiseite, um einen Blick nach draußen zu werfen.

Sie hatten Kawa erreicht.

Miharu konnte die erhabenen Konturen des Großen Schreins sehen, der sich majestätisch über das Dorf erhob.

Ihr Wagen ruckte leicht und setzte sich wieder in Bewegung. Diesmal langsamer.

Miharu nutzte die Gelegenheit, um aus dem Fenster heraus die Menschen zu betrachten.

Es waren viele Fischer unterwegs. Miharu wusste, dass der Fischfang die Haupteinkommensquelle des Dorfes war. Außerdem war es auch für sein ausgezeichnetes Sushi bekannt und der Große Schrein zog regelmäßig interessierte Besucher an.

Die Karawane hielt vor den Toren des Heiligtums, und die Wächter des Wassertempels stiegen aus ihren jeweiligen Kutschen.

Außer Miharu hatten noch drei weitere Wächter die Reise angetreten.

Sie erkannte Kinji, Soji und Jun. Sie waren alle um die zwanzig Jahre alt und auf ihrem jeweiligen Fachgebiet außergewöhnlich begabt.

Kinjis Kenjutsu war eines der besten, die sie je gesehen hatte, und wurde nur noch von seinem Iaijutsu übertroffen.

Soji kannte jeden Triggerpunkt am Körper eines Menschen, und konnte einen Gegner innerhalb von Sekunden kampfunfähig machen. Außerdem war er ein hervorragender Bogenschütze.

Und dann war da noch Jun, der drei verschiedene Nahkampf Stile beherrschte und eine schreckliche Bedrohung darstellte, wenn man den Fehler machte und ihn nahe genug an sich herankommen ließ.

Miharu seufzte leise. Im Vergleich zu diesen dreien verblasste ihre Fähigkeit, Wasser aus der Umgebung zu ziehen, völlig.

Die drei Männer blickten in ihre Richtung und nickten ihr kurz zu.

Miharu erwiderte den Gruß und vier Köpfe wandten sich um, als sie den Sentinel der Goldenen Garde auf sie zukommen sahen. Er musterte jeden Einzelnen einen Moment lang mit intelligentem Blick und neigte dann den Kopf. „Möge eure Kraft frei in euch fließen.“

„So frei wie die Vögel am Himmel“, antworteten die vier im Chor.

„Mein Name ist Tanza“, stellte sich der Bewahrer vor. „Ich bin für das Große Heiligtum verantwortlich ist. Willkommen in Kawa, Wächter. Folgt mir bitte. Ich werde euch zu euren Quartieren bringen.“

Miharu betrachtete interessiert die prunkvollen Säulen, die sich in den Himmel reckten. Der Große Schrein war ganz anders als der Wassertempel. Er war prächtiger, opulenter und das komplette Gegenteil der bescheidenen und schlichten Atmosphäre des Haupttempels.

Aber irgendwie ergab das Sinn, dachte Miharu, als sie sich auf ihr Bett fallen ließ und auf die reich verzierte Decke blickte. Der Große Schrein bewachte die Erste Schrift – eine Schriftrolle voller Weisheit, die angeblich vom ersten Großmeister selbst verfasst worden war. Es hieß, sie enthielt die Geheimnisse der Transzendenz. Doch nicht einmal der Große Bewahrer wusste genau, was darin stand. Es war strengstens untersagt, sie zu öffnen. Wer gegen dieses Gesetz verstieß, wurde gebrandmarkt und verbannt.

Das glich einem Todesurteil, denn niemand würde jemandem helfen, den der Tempel verstoßen hatte.

‚Der Tempel hat wirklich viel Einfluss‘, schoss es Miharu noch durch den Kopf, ehe der Schlaf sie übermannte.

Teil der Garde zu sein, war weniger aufregend, als Miharu angenommen hatte.

Sie verbrachte die meiste Zeit damit, in den Gängen zu patrouillieren oder am Eingang des Heiligtums Wache zu halten.

Es war ziemlich langweilig, und sie vermisste die Tage, an denen sie sich um die riesigen Kräutergärten des Tempels gekümmert hatte. Sie hatte sich zwischen den Pflanzen wohler gefühlt, als zwischen diesen prunkvollen Steinen. Miharu vermisste das einfache Leben innerhalb der Natur.

Sie seufzte leicht und straffte ihren Haori. Das blaue Tuch hatte nun einen goldenen Saum bekommen, der ihre Position als Ehrenwache signalisierte.

Es war Zeit für eine weitere Patrouille.

Mehrere Tage und Nächte strichen ins Land, bis Miharus eintöniges Leben plötzlich eine unerwartete Wendung bekam.

Es geschah in einer Vollmondnacht.

Miharu hatte gerade einen sehr schönen Traum, als eine plötzliche Schockwelle über sie hereinbrach und sie mitten aus ihren Träumen riss.

Die Erde bebte.

Im Licht des Mondes konnte Miharu deutlich die schmalen Risse sehen, die sich langsam durch das Mauerwerk zogen.

Sie sprang auf und stolperte unbeholfen aus dem Bett.

Ein Erdbeben?

Eine zweite Schockwelle folgte, und ein Teil der Decke knackte bedrohlich.

Miharu griff nach ihrer Kleidung und floh hastig aus dem Zimmer.

Sie konnte mehrere Wachen sehen, die mit grimmigen und entschlossenen Blicken auf den Eingang zuliefen.

Aus allen Richtungen ertönten laute Gongschläge.

Was war hier los?

Dong!‘

Dong!‘

Warum schlugen sie Alarm?

Dong!‘

Miharu lugte um die Ecke und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. 

Der Innenhof war ein Flammenmeer. Trümmer lagen auf dem Boden verteilt und zwischen den gierig lechzenden Flammen bewegten sich vermummte Gestalten.

Es stank nach Rauch und Asche. Miharu hustete und versuchte durch die Rauchschwaden etwas zu erkennen.

„Hier lang!“, schrie eine Stimme. „Sie kommen vom Nordtor!“

Ein Wächter hastete an Miharu vorbei und sie konnte gerade noch beiseite springen. Ihr Herz raste.

Sie wurden angegriffen!

Sie musste Sentinel Tanza finden. Er würde wissen, was zu tun war.

Miharu riss sich aus ihrer Starre und rannte durch den Korridor. Um sie herum stöhnte und ächzte der Tempel. Trümmerteile krachten neben ihr zu Boden, und Miharu konnte nur knapp dem oberen Teil einer einstürzenden Säule ausweichen.

Wo war der Sentinel?

Sie stürmte in die Gebetshalle. Glas knirschte unter ihren Schuhen und grün-bläuliche Splitter schimmerten im schwachen Licht der Fackeln.

Miharu sah sich um.

Das einst so prachtvolle Meeresmosaik war ein einziger Splitterhaufen und ein Stück Decke hatte die Statue der Wasserschlange von ihrem Sockel geschlagen.

Miharu sah den steinernen Körper der Schlange zerbrochen am Boden liegen. Doch der Kopf fehlte. Auch ansonsten war der Raum menschenleer.

War der Sentinel gegangen? Oder war er noch hier?

„Sentinel Tanza? Seid Ihr hier?“

Keine Antwort.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. „Sentinel Tanza? Könnt Ihr mich hören?“, wiederholte sie, diesmal lauter, und ihre Stimme bebte in Panik.

Hinter dem Altar ertönte ein schmerzerfülltes Stöhnen und Miharu stürzte eilig nach vorn.

Ihr Gesicht wurde bleich.

Tanza lag unter einem Teil der eingestürzten Decke. Er atmete schwer.

„Tanza!“ Miharu versuchte sofort, den Stein von ihm wegzuziehen. „Haltet durch! Ich hole Euch da raus!“

„Stopp“, stöhnte der Mann. Seine Stimme klang brüchig. „Es ist zu spät. Du musst … die Erste Schrift in Sicherheit bringen.“

„Was?“ Miharu schüttelte den Kopf. „Aber ich kann Euch doch nicht hier lassen! Ihr werdet sterben!“

„Wächterin Miharu!“, keuchte der Sentinel atemlos. „Das ist ein Befehl. Nimm … die Schrift … und lauf weg. Unter…dem…Altar. Schla…nge.“

Er gab einen röchelnden Laut von sich und seine Stimme brach.

„Tanza!“ Miharu starrte entsetzt auf die unbewegliche Gestalt. „Tanza! Bitte sagt doch etwas. Tanza!“

Doch der Mann blieb stumm.

Miharu schluckte.

Er war tot.

Tanza war tot!

Sie schüttelte den Kopf.

Ihre Beine zitterten und ihr wurde schwindelig.

Nein, sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen. Sie musste in Bewegung bleiben.

„Reiß dich zusammen, Miharu“, zischte sie. „Du bist eine Wächterin!“

Miharu atmete einmal tief durch und zwang sich, neben dem Altar niederzuknien.

„Schlange“, murmelte sie, „Wo ist hier eine Schlange?“

In der Ferne erklangen Schreie.  Miharu versuchte, sie zu ignorieren. Ihre Finger glitten hektisch über den polierten Stein. „Verdammt, wo ist diese Schlange?“

Es wurde heißer. Die Flammen kamen näher. Miharu konnte aus den Augenwinkeln bereits einen orangen Schatten sehen.

Dann endlich ertasteten sie eine kleine Schnitzerei, die sich wie ein S anfühlte. Sie drückte dagegen, doch ihre vor Schweiß triefenden Finger rutschten ab. Sie biss sich auf die Lippe.

Ungeduldig wischte sie sich die Hände an ihrem Haori ab und versuchte es noch einmal.

Aber es geschah nichts.

Die Schreie wurden lauter. Sie hörte Kampfgeräusche.

Miharu biss sich auf die Lippe. Was nun?

Vielleicht sollte sie ein wenig von ihrer Energie in die Schlange kanalisieren?

Sie versuchte es.

Die Augen der Schlange leuchteten sanft auf, und ein lautes, knirschendes Geräusch drang aus dem Boden. Sie stieß einen leisen Schrei des Triumphs aus und sah mit großen Augen zu, wie der Altar auseinanderbrach und eine Schriftrolle vor ihr erschien.

Die Erste Schrift.

Sie hatte sie gefunden.

Für einige Sekunden starrte Miharu einfach nur auf die Schriftrolle, doch dann erinnerte ein plötzliches Krachen hinter ihr sie wieder an ihre missliche Lage.

Sie ergriff die Schriftrolle so vorsichtig wie möglich, verbarg sie in ihrem Haori und rannte aus dem Gebetsraum, wobei sie einen letzten betrübten Blick auf den Leichnam unter dem Stein warf.

Von der linken Flurseite schlugen ihr die Flammen entgegen.

Sie wich nach rechts aus.

Das hintere Tor erschien bereits vor ihr.

Ihre Schritte dröhnten in ihren Ohren, und sie hoffte inständig, dass niemand ihr schnelles Herzklopfen hörte. Es hämmerte so laut, dass man es sicher noch über Meilen hören konnte.

Da stellte sich ihr plötzlich eine vermummte Gestalt in den Weg.

Miharus Herz setzte einen Schlag aus. Ihre Augen wanderten hektisch über den schmalen Pfad. Es gab kein Entkommen. Sie machte sich zum Kampf bereit.

Doch es kam nicht so weit. Denn eine zweite Gestalt erschien hinter der Vermummten. Es war Jun. „Miharu! Lauf!“ schrie er und warf sich auf den Gegner.

Miharu zögerte nur eine Sekunde.

Sie beschleunigte ihre Schritte und stürzte an den Kämpfenden vorbei.

Der Vermummte streckte die Hand nach ihr aus, doch Jun, stieß ihn mit einem gezielten Kick zurück.

Mit einem heftigen Ruck stieß sie das Tor auf und rannte nach draußen, den Lärm der Schlacht hinter sich lassend.

Miharu wusste nicht, wie lange sie rannte.

Doch sie stoppte erst, als sie Schrein weit hinter sich gelassen hatte.

Heftig atmend und mit zitternden Beinen lehnte sie sich gegen einen Baum.

Ihre Kehle brannte. Sie hatte Durst.

In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

Was war geschehen?

Wer hatte sie angegriffen?

Und noch wichtiger, wo sollte sie hin? Sie musste die Schrift in Sicherheit bringen.

Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken und sie zog ihren Haori dichter um sich. Ihr war auf einmal so kalt. Eigenartig.

Kam es ihr nur so vor oder wurde die Luft irgendwie dicker?

Hinter ihr knirschte es. Es klang wie Schritte.

Miharus Nackenhaare stellten sich auf und sie drehte sich um.

Ein blonder Mann stand vor ihr.

Sie erstarrte, als sie die merkwürdig gefärbten Augen sah, die sie mit einem Ausdruck von Desinteresse musterten.

„Wächterin“, begann er mit tiefer Stimme, „wo ist die Niederschrift?“

Miharu trat einen Schritt zurück. „Ich weiß nicht, wovon Ihr redet.“

Der Mann hob eine Augenbraue. „Ist das so?“, erkundigte er sich milde. „Es fällt mir schwer, das zu glauben. Zumal man dich bei der Flucht aus dem Gebetsraum beobachtete. Also frage ich dich noch einmal: Wo ist die Erste Schrift? Antworte mir und es wird dir nichts geschehen.“

Miharu schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht vor, ihren Tempel zu verraten. Sie hatten sie aufgezogen, sich um sie gekümmert. Sie waren ihr Zuhause. „Ich weiß es nicht“, wiederholte sie.

„Dann bleibt mir keine andere Wahl“, antwortete der Mann und klang beinahe bedauernd. Er hob seine Hand.

Plötzlich begannen die Äste hinter ihr zu ächzen und die Wipfel der Bäume bogen sich schwerwiegend im Wind. Miharu spürte, wie der Druck auf ihrem Brustkorb zunahm. Sie versuchte, standhaft zu bleiben, doch der Wind drängte sie immer weiter zurück, bis sie schließlich gegen ein Baumstamm prallte.

Miharu konnte sich kaum bewegen, doch sie weigerte sich, aufzugeben. Schwer atmend streckte sie ihre Hand aus. Ihr Arm zitterte unter der Anstrengung.

Sie sammelte ihre Energie und rief nach dem Wasser der Erde.

Die Luft wurde trocken, doch der Mann machte keine Anstalten, sie aufzuhalten.

Er stand einfach nur da und sah unbeeindruckt zu, wie sich die Wassertropfen vor ihr sammelten.

Miharu biss die Zähne zusammen. Wie konnte er nur so ruhig bleiben? Sie nahm all ihre Kraft zusammen und ließ los.

Die Wassertropfen verschmolzen zu einer gewaltigen Schlange und schossen hungrig zischend auf den Mann los.

Doch der rührte sich noch immer nicht von der Stelle.

Miharu sah ein Blitzen in seinen Augen und für einen Atemzug lang erstarrte die Schlange im Sprung.

Eisige Kälte legte sich über die Lichtung.

Dann klirrte es und Miharus Wasserschlange verging in einem Eisregen aus funkelnden Splittern, der die silbernen Augen des Mannes noch gespenstischer aussehen ließ.

Miharu schluckte. Das war ihr stärkster Angriff gewesen, und er hatte ihn einfach eingefroren?

Plötzlich wurde ihr klar, wie sehr sie ihm unterlegen war.

„Bemerkenswerte Transformation“, bemerkte er ruhig und es klang, als kommentiere er das Wetter, „aber nicht gut genug.“

Er hob abermals die Hand. Der Wind drehte seine Richtung.

Miharu ächzte, als sie plötzlich nach vorn gestoßen wurde und hart zu Boden krachte. Ihr Körper schmerzte und der Wind war zu stark.

Und dennoch versuchte sie sich aufzurichten.

Es gelang ihr nicht. Ihre Arme waren außerstande, die Last ihres Gewichts zu tragen.

Ein Hauch von Interesse erschien im Blick des Mannes, als er ihre erfolglosen Versuche beobachtete. Er trat einen Schritt näher. „Warum leistest du weiter Widerstand? Du bist unterlegen und am Ende deiner Kräfte. Du kannst dich nicht mehr bewegen.“

„Ich… werde… meine Familie… nicht… verraten“, antwortete Miharu. Sie klang erschöpft und atemlos.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Miharu eine Bewegung und sie sah Gestalten in schwarzen Roben aus dem Schatten treten.

Eine der Gestalten trat nach vorn. „Anführer.“ Die Stimme klang kehlig. „Der Große Schrein ist nicht mehr. Doch wir konnten die Schrift nicht finden.“

Miharu versuchte erneut sich aufzurichten. Sie brannte vor Wut. Diese Mistkerle hatten den Schrein zerstört! Was war mit den anderen Wächtern? Mit Jun? Lebte er noch? Sie musste es wissen.

„Das macht nichts.“ Der Anführer richtete seinen Blick wieder auf Miharu. „Ich habe die Schrift bereits gefunden.“

Mit schnellen Schritten trat er auf sie zu und zog behände etwas aus ihrem zerrissenen Haori.

Die Erste Schrift!

Miharu konnte nicht zulassen, dass er sie einfach mitnahm.

In ihrer Verzweiflung griff sie mit ihren Händen nach dem Saum seiner Robe und zerrte daran.

Emotionslose Augen sahen auf sie herab. „Deine Beharrlichkeit ist bewundernswert, aber töricht. Es gibt nichts, was du noch tun kannst. Du bist geschlagen.“

Miharu spürte, wie der Boden bebte. Risse zogen sich durch die Erde.

Dünne Kristalle krochen wie Würmer hervor und schlangen sich um Miharus Arme und Beine. Sie versuchte verzweifelt, sie abzuschütteln, doch sie verhärteten sich mit jedem Atemzug. Es war, als würde das Eis um sie herum wachsen und sie am Boden festzurren.

Dann war es endlich vorbei.

Für einen Moment herrschte Stille, als die Vermummten stumm auf das bewegungslose Mädchen sahen. Schließlich ergriff der Anführer erneut das Wort. „Wir haben, was wir wollten.“

Miharu konnte nur hilflos zusehen, wie die Gestalten eine nach der anderen in der Nacht verschwanden.

Kling.

Etwas Glänzendes landete vor ihrem Kopf auf dem Boden. Miharu starrte auf das blutbefleckte silberne Amulett und ihr lief ein Schauer über den Rücken, als sie es erkannte.

Es gehörte Jun.

Sie hob den Kopf, soweit sie konnte, doch die Lichtung war leer.

Miharu blickte in die Flammen, die über den Ruinen des Heiligtums wüteten.

Hinter dem Horizont ging langsam eine blutrote Sonne auf und sie fühlte, wie ein Feuer in ihr zu lodern begann.

Ich werde sie zurückholen.“ Ihre Stimme klang eisern. „Ich schwöre es im Namen der Schlange.“

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